• ST.GALLEN ERKLÄRUNG FÜR SCHEPENESE

    „Mögen sie, wenn sie dich täglich betrauern, sagen:

    Mögest du in Frieden in dein Grab eintreten!

    Dein Grabbau ist die Ewigkeit.“

    Aufschrift auf dem Sarg Harmachis

     

     Jeder kennt sie: Die Mumie aus dem Alten Ägypten, die sich im Besitz der Stiftsbibliothek St.Gallen befindet. Dort wird sie, ausgewickelt bis zur Brust, zusammen mit ihren zwei Särgen im barocken Büchersaal in einer Glasvitrine ausgestellt. Für viele ist sie die Hauptattraktion der Bibliothek, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und jährlich an die 150‘000 Besucherinnen anzieht. Neben Schepenese können in der Stiftsbibliothek 170'000 gedruckte Bücher und 2‘000 mittelalterliche Originalhandschriften bewundert werden – etwa der Abrogans, das älteste überlieferte deutsche Buch mit der ältesten deutschen Version des Vaterunser.

    Im Rahmen verschiedener wissenschaftlicher Untersuchungen konnte die Mumie als „Schepenese“ (altägyptisch für „mit der Isis verbunden“) identifiziert werden: Eine Priestertochter, die zwischen 700 und 650 v. Chr. zur spirituellen Elite gehörte. Sie starb mit schätzungsweise 30-40 Jahren und wurde in der Nekropole von Theben (dem heutigen Luxor) in einem Familiengrab bestattet. Damals war St.Gallen unbesiedeltes Gebiet, die christliche Religion war noch nicht begründet. Es sollte noch 1500 Jahre dauern, das Römische Reich entstehen und untergehen und Europa in die Wirrnisse der Völkerwanderung fallen, bis die erste in der Stiftsbibliothek kopierte Bibel entstehen konnte.

    Nochmal 1000 Jahre sollten vergehen, bis die Mumie mit dem reich bemalten Innen- und Aussensarg in die Schweiz gelangte. Grabräuber hatten sie in dem von französischen und englischen Armeen geplünderten Ägypten einem französischen Geschäftsmann verkauft, der sie seinerseits dem damaligen St. Galler Landammann schenkte. Dieser überliess Schepenese als Leihgabe der Stiftsbibliothek und drängte den Katholischen Konfessionsteil wiederholt zum Kauf, welcher daher bis heute Besitzer der Mumie ist.

    Immer wieder wurde aus verschiedenen Kreisen Kritik an der Zurschaustellung der Schepenese laut. Wie hätte St.Gallen auch stolz darauf sein können? Ihrem Grab von Grabräubern entrissen, nach Paris verkauft und nach St.Gallen verschenkt, ausgewickelt in der Stiftsbibliothek den Blicken von Millionen von Tourist*innen dargeboten, ist Schepenese eine ständige moralische Irritation an diesem Ort des spirituellen Wissens und der Hochkultur.

    Dieser räuberische und respektlose, zumindest aber gedankenlose Zustand ist einer Kulturmetropole wie St.Gallen unwürdig! Wir fordern deshalb eine Revision dieses Zustands:

    AUS GRÜNDEN DER PIETÄT. Es handelt sich bei Schepenese um eine rituell einbalsamierte und bestattete Frau. Wie Sylvia Schoske, die ehemalige Direktorin des Ägypten-Museums in München, schreibt, ist gemäss alt-ägyptischen Vorstellungen „die Zurschaustellung eines einbalsamierten Leichnams gleichbedeutend mit dessen Verdammnis.“ Und es ist wohl unmöglich, Frau Schoske nicht zuzustimmen, wenn sie weiter schreibt: „Es sollte selbstverständlich sein, die Scheu des alten Ägypters vor dem toten Körper zu respektieren.“ Der Fall der Schepenese verletzt die Tabus altägyptischer, aber auch christlicher, jüdischer und muslimischer Totenbestattungsriten. Eine Revision des aktuellen Zustands ist eine Frage des Respekts, auch vor dem geschichtlichen Erbe des St. Galler Klosterbezirks

    AUS GRÜNDEN DES RECHTS. Aktuell laufen zahllose Prozesse und Petitionen, die die Rückgabe unrechtmässig entwendeter altägyptischer Kunst fordern – etwa des Rosetta-Steins, den die englische Armee einst aus Ägypten raubte. Gemeinsam mit Partner*innen aus der Wissenschaft, sowie der schweizerischen und ägyptischen Zivilgesellschaft nehmen wir diese Bemühungen auf. Denn die Existenz Schepeneses in der Schweiz spiegelt ein fortlaufendes koloniales Unrecht. Unter den damaligen Herrschaftsverhältnissen verfügte Ägypten faktisch über keinerlei Souveränität, den Verbleib seines kulturellen Erbes selber zu regeln. Auch wenn die Provenienz der Mumie durch die Bemühungen der Stiftsbibliothek so gut wie möglich geklärt ist und der Ankauf durch St.Gallen formal legal erfolgte, so bleibt doch am Anfang der Kette der Grabraub.

    AUS ÖKONOMISCHEN GRÜNDEN. St.Gallen und Theben sind sich nicht so unähnlich, wie man glauben könnte: Das christliche Mittelalter und Altägypten investierten weit mehr als alle späteren Kulturen in ein Leben nach dem Tod. Totenkult und Jenseitsglaube Altägyptens verschlangen über Tausende von Jahren über die Hälfte des Bruttosozialprodukts. Dieser Wert besteht – vergleichbar den Kirchen und den Manuskripten des St. Galler Klosterbezirks – in den Pyramiden, den zahllosen Kultgegenständen und natürlich den Mumien fort. Die Zurschaustellung Schepeneses, die als „berühmteste Mumie der Schweiz“ seit 200 Jahren die heimlich-unheimliche Attraktion der Stiftsbibliothek ist, stellt bei 150‘000 Besucher*innen pro Jahr für die Gallusstadt einen nicht unerheblichen touristischen Mehrwert dar.

    AUS GRÜNDEN DER BESCHEIDENHEIT. Die Beendigung der Ausstellung der nackten Schepenese ist auch ein längst fälliger symbolischer Akt der kulturellen Bescheidenheit: das Ende der arroganten europäischen Überzeugung, dass in der eigenen Kultur alle Ideen und Hoffnungen früherer Zivilisationen entweder aufgehoben oder für überwunden und wertlos erklärt werden können. Es wäre das Bekenntnis zu einem anderen Begriff von Fortschritt, dessen Rückgrat nicht mehr das Verwerten und Vergessen ist, sondern das Eingeständnis der gegenseitigen Angewiesenheit und der Bereicherung über alle kulturellen und zeitlichen Grenzen hinweg.

    WIR STELLEN FEST:
    Die Ausstellung der Schepenese überzieht den St. Galler Stiftsbezirk, einen der spirituellen Hauptorte der mittelalterlichen christlichen Kultur, seit bald 200 Jahren mit dem Ungeist des Kulturraubs und der Ignoranz. Ein klassischer Akt der Tempelreinigung ist angebracht! Die Toten sind kein Kapital, der Glaube alter Kulturen ist kein Gruselkabinett. Die Ausbeutung und Plünderung Ägyptens und vieler weiterer Kolonien, an der bedauerlicherweise auch die Schweiz beteiligt war und weiterhin ist, kann durch ein anderes, beiden Hochkulturen angemesseneres Verhalten verändert werden.

    WIR FORDERN:
    Solidarität mit den Toten! Lasst Schepenese heimkehren! Dafür ermutigen wir St.Gallen zu folgenden Schritten:

    DIE TOTEN BRAUCHEN EINEN ORT! Gemeinsam mit allen involvierten Parteien – der Siftsbibliothek, dem katholischen Konfessionsteil, der Stadt und dem Kanton St.Gallen, der UNESCO sowie unseren Partner*innen und Berater*innen aus Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und der ägyptischen Zivilgesellschaft, ägyptischen Behörden und Wissenschaftler*innen – wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Möglichkeiten und Modalitäten einer Rückführung der Schepenese in ihre spirituelle Heimat bis Ende 2023 prüft und den zuständigen Behörden zur Verabschiedung vorlegt, sowie die Debatte zu allen relevanten Fragen in die Öffentlichkeit trägt.

    RUHE FÜR SCHEPENESE! In der Zwischenzeit fordern wir, als temporäre Minimal-Lösung, einen würdigen Umgang mit dem Leichnam der Schepenese. Öffentlich ausgestellt werden soll die Mumie nur in den (geschlossenen) Särgen. Möglich wäre auch eine öffentliche Foto-Dokumentation, während Schepenese selbst und ihre Särge an einem angemessenen Ort verwahrt werden – etwa in der Gruft des Klosters, an der Seite der Gebeine der St. Galler Klostergründer.

    GÜTERTAUSCH STATT RAUB! St.Gallen hat mit der Mumie einer anderen Hochkultur, wenn auch unabsichtlich, ein zentrales, spirituelles Gut entwendet. Warum schaffen wir nicht einen Ausgleich? Indem wir eine berühmte St. Galler Handschrift, etwa den Abrogans, einem ägyptischen Museum ausleihen oder gar schenken? St.Gallen gibt ein Beispiel, St. Galler Spiritualität geht auf Reisen: Kultur wird nicht geraubt, sondern global getauscht! Respektvoll, gross­­­­zügig und transparent! Nutzen wir jetzt die Chance des kulturellen Austauschs!

    DER FRANKEN DER WÜRDE! Die Kosten der Ausarbeitung der Übergangslösung erfolgen aus dem Preisgeld des Grossen St. Gallischen Kulturpreises 2022, insgesamt 30‘000 Franken. Für die für die weiteren Schritte und den kulturellen Austausch anfallenden Mehrkosten sorgt St.Gallen vor: Von jedem der Eintritts-Tickets in die Stiftsbibliothek fliesst ab sofort ein Franken der Würde – 5 Prozent des Eintrittsgeldes – in den Schepenese-Fonds des kulturellen Austauschs und der Debatte!

    EIN BEISPIEL FÜR DIE WELT! Die Stiftsbibliothek und damit auch Schepenese und ihre Särge sind UNESCO-Weltkulturerbe. Die UNESCO hat bereits 1976 eine Charta zur Restitution geraubter Kulturgüter verabschiedet, der Fall der Schepense fällt eindeutig unter die Verordnungen dieser Charta. Wir fordern alle Mitgliedstaaten der UNESCO auf, sich der „St. Galler Erklärung für Schepenese“ anzuschliessen. Gemeinsam mit der Stiftsbibliothek gibt so die Welt ein Beispiel für einen fairen, respektvollen und innovativen Umgang der Kulturen miteinander.

    Schepenese war einst ein Geschenk an St.Gallen, ein Geschenk, mit dem St.Gallen nie glücklich werden konnte. Denn hier bewahrheitet sich das alte Sprichwort: „Unrecht Gut tut selten gut.“ Auch diese Erklärung will deshalb ein Geschenk sein, aber eines, das Güte und Glück stiften soll: Machen wir aus einer Bürde eine Würde!

    LASSEN WIR ST.GALLEN – WIE EINST DURCH DIE BEGRÜNDUNG DES KLOSTERS UND SEINER BIBLIOTHEK – ZU EINEM VISOINS-ORT EINER NEUEN GLOBALEN KULTUR WERDEN!